Noch bist du da

Wirf deine Angst
in die Luft

Bald
ist deine Zeit um
bald
wächst der Himmel
unter dem Gras
fallen deine Träume
ins Nirgends

Noch
duftet die Nelke
singt die Drossel
noch darfst du lieben
Worte verschenken
noch bist du da

Sei was du bist
Gib was du hast

Rose Ausländer

Meer

Wenn man ans Meer kommt
soll man zu schweigen beginnen
bei den letzten Grashalmen
soll man den Faden verlieren

und den Salzschaum 
und das scharfe Zischen des Windes einatmen
und ausatmen
und wieder einatmen

Wenn man den Sand sägen hört
und das Schlurfen der kleinen Steine
in langen Wellen
soll man aufhören zu sollen
und nicht mehr wollen wollen nur Meer
Nur Meer

Erich Fried


Manchmal spricht ein Baum 
durch das Fenster mir Mut zu 
Manchmal leuchtet ein Buch 
als Stern auf meinem Himmel 
manchmal ein Mensch
den ich nicht kenne,
der meine Worte erkennt

Rose Ausländer 

Du musst das Leben nicht verstehen

Du musst das Leben nicht verstehen,
dann wird es werden wie ein Fest.
Und lass dir jeden Tag geschehen
so wie ein Kind im Weitergehen von jedem Wehen
sich viele Blüten schenken lässt.

Sie aufzusammeln und zu sparen,
das kommt dem Kind nicht in den Sinn.
Es löst sie leise aus den Haaren,
drin sie so gern gefangen waren,
und hält den lieben jungen Jahren
nach neuen seine Hände hin.

Rainer Maria Rilke 

Weil jede Mauer eine Lücke hat 
und jede Grenze irgendwo ein Tor;
weil jedes Ende auch ein Anfang ist 
und jeder Traum ein neuer Raum;
weil jeder Same Blüten birgt 
und jeder Morgen auch ein Aufstand ist.

Susanne Niemeyer 

Rat

Nein, Junge, suche du allein
Den Weg und laß mich weitergehen!
Mein Weg ist weit und mühevoll
Und führt durch Dornen, Nacht und Wehen.

Geh lieber mit den andern dort!
Der Weg ist glatt und viel betreten,
Ich will in meiner Einsamkeit
Auch fürder einsam sein und beten.

Und siehst du mich auf Bergen stehen,
Beneid mich nicht um meine Flügel!
Du wähnst mich hoch und himmelnah -
Ich seh, der Berg war nur ein Hügel.

Hermann Hesse

Sommerfrische

Zupf dir ein Wölkchen aus dem Wolkenweiß,
Das durch den sonnigen Himmel schreitet.
Und schmücke den Hut, der dich begleitet,
Mit einem grünen Reis.

Verstecke dich faul in der Fülle der Gräser.
Weil`s wohltut, weil`s frommt.
Und bist du ein Mundharmonikabläser
Und hast eine bei dir, dann spiel, was dir kommt.

Und lass deine Melodien lenken
Von dem freigegebenen Wolkengezupf.
Vergiss dich. Es soll dein Denken
Nicht weiter reichen als ein Grashüpferhupf.

Joachim Ringelnatz